Unwetter in blau

Angenehm kühl hier drin.
Dass es um die Zeit schon so schwül ist,
also ich leide richtig bei der Wetterlage.
Nee, nicht in die erste Reihe,
lass mal nach hinten, da in die Plastiksessel.
Hast du die Pfandstückliste?
Ja, das ist der Versteigerungskatalog.
Krass ey, sein ganzer Hausstand auf mal,
dass ich das noch erleben darf.
Ja, sicher tut einem das in der Seele weh –
Lass mal sehen! – Okay?!
Erst die ganzen hochwertigen Dinge von ihm,
zum Schluss kommt der Ramsch von seiner Alten.
Der teure Hamam-Stein – will keiner haben –,
Dann der ganze Deko-Kitsch, mon Dieu, kaum auszuhalten,
das Meissener Porzellan – klar, da geht was.
Aber die Cocktailkleider, die ganzen Schuhe
und der Ali-McBeal-Sex-and-the-city-Scheißdreck,
alles in der alten Übersee-Holztruhe – ist überhaupt nichts wert.
Ein großer Haufen Tand.
Gebote sind deutlich und eindeutig abzugeben.
Es wird nur Barzahlung akzeptiert.

Am Ende, wenn das alles weg ist,
kommt noch das Zeugs aus den Kartons untern Hammer,
glaub mir, da ist noch richtig Schönes bei, das weiß ich.
Seine Plattensammlung mit den Blue-Note-Originalen.
Die Blonde-on-Blonde-Monopressung,
alles natürlich nur nass abgespielt,
und der Weinkeller mit der Chateauneuf-du-Pape-Collection,
bin gespannt, ob der dabei ist, da schlag ich zu.
Dann sind die Aasfresser hier hoffentlich weg.
Sieh sie dir an, die schlechtgelaunten Trödelhändler
mit ihren Trucker-Kappen und den grauen Pferdeschwänzen
in ihren T-Shirts, Westen und kurzen Hosen – degoutant.
Die haben’s auf die offensichtlichen Werte abgesehen.
Den Allerwelts-Plasma-Touchscreen-Docking-Krimskrams.
Die 59er Les Paul Custom mit dem Marshall Stack –
weiß jeder, was das wert ist!
Da wollen die ran – aber ich kann warten.
Nein, mein Lieber, ist noch bisschen früh,
obwohl: bei der Hitze,
nee, das bisschen Kritzelregen schafft nichts weg,
besser solange deine Kühltasche noch kalt ist.
ja, Noilly Prat ist gut, sehr gut,
die Gläser; exzellent, Chapeau und cin cin –

Da sieht man’s also wieder:
Der flitterig-sentimentale Weibergeschmack
bringt nichts auf die Uhr;
Geschmack eben, aber kein Stil.
Während er ja durchaus Werte gehortet hat.
Nee, nee, die Autos waren geleast,
den Oldtimer hat er noch zur Seite geschafft.
Sieh da, ihre Freundinnen, alle sind sie da,
begrüßen sich mit Küsschen – wie Schnabelhiebe.
Ihre Trainings-Partnerin im Waldmeister-Shirt,
die ist echt widerlich, begrabbelt alles mit ihren Fottfingern.
Sie selbst, in Jeans und Tank-Top,
sieht richtig gut aus, jünger – viel besser als zuletzt,
wenn du mich fragst.
Mit wem sie da rumsteht und giggelt?
Das ist, glaube ich, ja echt, das ist die Gerichtsvollziehrein,
war mal ‛ne frühe Flamme von ihm, noch zu Studienzeiten,
‛ne ganz Nette eigentlich – interessant.
Er selbst ist natürlich nicht da, sagt, er habe Termine – der Dödel.
Kann ich mir denken, wo der Termine hat.
Aber im Ernst; der war schon vor der Sache längst ausgebrannt.
Basel II – ein immer mieseres Scoring –
Haircut, Haircut –
hat ihm letztlich das Genick gebrochen.
Hat schon das ganze letzte Jahr keinen Biss mehr gezeigt.
Keine Motivation, überhaupt kein Zweikampfverhalten, sagt auch Lars,
der hat ihn zuletzt noch in Verhandlung erlebt, ein Trauerspiel.
Da, die Edel-Armbanduhr – ziemlich nice –
brächte bei ‛ner privaten Auktion ein kleines Vermögen – aber so …
Diese Aasgeier!
Die handgenähten Schuhe aus Mailand nicht genug.
Seine Sneaker-Sammlung auch nicht.
Nee, ist alles Räumungsgut,
geht ohne Mindestgebot los.
Die Bibliothek – nur ganz paar Erstausgaben,
die meisten von den Eltern geerbt; Generation Treppenlift –
kannst du vergessen.
Ein Plattenspieler der Firma Clearaudio.
Höre ich ein Gebot dafür?
Da hast du’s – früher, weiß ich noch, war er glücklich,
wie seine geliebten Hardrock-Alben auf CD erschienen sind,
zuletzt saß er dann in seinem Bloß-kein-Spießer-Wohnzimmer
mit dem kompletten Coltrane auf Vinyl in Dolby-Surround.
Echt! Dieser unbedingte Wunsch des Kleinbürgers,
bloß nicht kleinbürgerlich zu sein. Da kam der auch nicht raus!
Ja, der Guss spült hoffentlich endlich mal die Pollen aus der Luft,
wird auch Zeit, und bitte gib mir doch noch einen Noilly Prat,
sei so gut – merci.

Sicher – so hat das alles funktioniert,
bis zum Schluss, das Reich der Freiheit,
nicht Gleichheit und Gerechtigkeit
– Brüderlichkeit, haha, hau mir ab –
Wohlstand und Happiness,
der Amerikanische Traum
von Doris Day, Rock und Rocky,
der Tanners, Bundys und Simpsons:
White Christmas und in der Garage
ein Dodge oder Außerirdischer,
LSD-Küche, Rockband oder Softwarefirma.
Das und nichts anderes wollen auch die Migranten
weltweit, immer noch.
Von wegen Get-No-Satisfaction – nique ta mère!
Jedem Angestellten sein Eigenheim,
jedem Jugendlichen seinen Lifestyle,
sprechende Autos und Bananen.
Und – Forever Young, das ist alles.
1 Euro geboten, mehr als 1 Euro?
2 Euro, 3, 4 – 10 Euro …

Und alles ohne Bomben – jedenfalls fast –
nur durch Reichtum, der allerdings gigantisch,
mitsamt den bereitgestellten Aufstiegsmöglichkeiten
für alle mit gültigen Papieren.
Dagegen kam keiner an.
Ey – hättest du sehen müssen:
Mick und Keith Backstage in Berlin–noch-DDR
in ihren Gipsy-Klamotten zwischen  Ex-Blauhemden mit
Dauerwellen und Bluesern mit Bürgerrechtsbärten
bei Bier und Frikadellen, Alter – der absolute Wahnsinn.
Dagegen der King of Pop
mit Schimpansen im Arm und Nasenprothese im ewigen Freizeitpark,
tanzte und sang ihnen das wahre Leben vor, bis zum Ende.
Und den ganzen Bourgeouis-Kram ja auch noch im Kopp;
Herrje – Individuum, wer bin ich wirklich,
Selbstfindung, Schießmichtot.
Aber gegessen wird nun mal woanders!
… 59 Euro zum Dritten – Herr May!
Oh Mann, die ganzen teuren Biolek-Küchen-Gerätschaften,
die gibt’s auch noch.
Ja, ich hab noch Gerichtstermin – egal, wir bleiben.
Ey, guck die beiden Frauen;
Die Ex-Schnitte und seine Alte, trinken Schnaps jetzt,
Wodka oder was ist das, aus Wassergläsern, ich halt‘s nicht aus.
Na und, gibt’s eben VU – scheiß ich drauf! Bei dem Regen, ey!
Was, der tut dem Boden gut? Welcher Landwirtschaft denn,
gibt’s doch gar nicht mehr – Spinner?
Gib mir lieber noch‘n Noilly Prat.
Hast Du noch ‛ne zweite Flasche bei?
Bist ein Guter!

Na bitte, jetzt nähern wir uns langsam
der Seele vom Ganzen; dem Eingemachten.
Seine LP-Spezialsammlung, 2.000 Platten –
ich schwör’s dir – alle von Dylan:
Japan-, Mono-, Erst-, Spezialpressungen,
mit und ohne Shape, Limited Editions, all so was …
Eine umfangreiche Sammlung alter Vinyl-Schallplatten,
Höre ich ein Gebot?

Ich begreif das nicht – das sind doch Perlen vor die Säue!
Wieso bringen die das hier untern Hammer für’n  Appel und ’n Ei?
Da stimmt doch was nicht.
Nein, bei Woodstock ist er nicht aufgetreten – Motorradunfall.
Menschenskind, was ist denn da los?
Und die Frauen lachen sich kaputt.
Ach was, dieses Konzept von Jugend als Klasse,
das war doch damals schon lächerlich.
Klar, das waren hochintelligente junge Leute,
Jungs zumeist, extrem stilbewusst.
Revolution und Sex immer im Mittelpunkt.
Die Avantgarde, meine ich,
die konnte ohne die Twen- und Teeny-Masse aber gar nicht existieren.
Junge Menschen in der identitären Perma-Krise
mit Frisuren, Klamotten, ewiger Pubertät,
angefeuert durch immer neue Popstars, Lifestyle-
und Hippness-Salven.
Und deren Sex, the pursuit of Sexiness:
Erst wackelten nur die Schwarzen mit Hüften und Ärschen,
dann Elvis, und in Woodstock
badeten dann auch die weißen Protestanten-Tussis nackt im See.
So viel zur Befreiung.
Und das hätte noch ewig so weitergehen können.
Radikal, weil sie sich nicht ans Hergebrachte hielten.
Sich-immer-wieder-neu-erfinden
wie Madonna, Apple oder adidas. Das  zur Rebellion!
Okay, ‛nen Krieg haben sie stoppen können, vor 40 Jahren.
Und heute ist deshalb auch keiner mehr bereit,
für sein Land zu sterben. Aber muss ja auch nicht.
Dafür gibt’s ja längst andere Leute!
… und zum Dritten – Herr May!
Jetzt weiß ich’s – das ist der Strohmann.
Der mit der Pauli-Kappe.
Haste gesehen, wie sie ihm zugezwinkert hat,
Ach quatsch, flirten! Mit der Graupe?! Willst du mich verarschen?
Also, darauf brauch ich noch ‛n Wermut.
Und von Teenagern den Aufstand erwarten – genau,
wie blind muss man sein, ey?
Da kommt ja ganz schön was runter jetzt, da draußen.
Du hast doch noch, oder? – Danke!

Ah, da – das große Gemälde, der Schinken,
gibt’s ja auch noch, hätt‘ ich glatt vergessen.
bestimmt vier mal zwei Meter, naja fast,
ein früher Richter, Dingsbums oder so, keine Ahnung,
hing bei ihnen immer über dem großen italienischen Bauerntisch,
‚Unwetter in blau‘ ist der Titel,
soll ein aufgepeitschter Himmel sein, überm Meer, alles blau!
Das brächte woanders locker zwanzigtausend Flocken.
Irgendwo in dem Gekrackel findet man die blaue Blume,
heißt es, hat er mir mal im Suff erzählt.
A propos großer Esstisch – wo ist der eigentlich?
Ich mein, der war echt super.
Hätte ich gern für mein Besprechungszimmer gehabt.
Na, was soll’s! Die blaue Blume? – Kennst Du nicht?
Romantik – Novalis? – Wie bist Du denn drauf?
‚Wer die blaue Blume finden will, der muss /
ein Wandervogel sein‘ – auch nicht?
Deutsche Jugendbewegung, Mann, die Bündischen.
Da stand der drauf. War als Kind in irgendso‛ner Fahrtengruppe.
Nur Jungs, Mädchen nicht zugelassen.
Die Gegenstände müssen bis zum Schluss
der Auktion abgefordert werden.

Eskapismus in die Wälder,
immer auf Distanz zu Spießern und Prolls.
Wilde Gesellen in Lumpen und Luden –
dabei kommt dann ja gern dieser Elite-Quark raus:
‚Auslese und Gestaltung des jugendlichen Lebens‘ oder:
‚Führertum und Freundschaft, die Urkräfte eines Bundes‘,
so’n Zeug hat der gelallt gerne, nach paar Grappas – ich schwör’s dir.
Ja genau, könnte auch von diesem LSD-Guru sein,
‚Turn on, tune in, drop out‘ – derselbe Scheiß.
… und zum Dritten – verkauft an Herrn May!
Und – glaubst du’s mir jetzt?
Am Schluss transportieren die alles gemeinsam ab –
Bringin it all back home, so läuft das hier.
Die Lücke zwischen der großer bildungsbürgerlichen Hoffnung
und den real mickrigen Chancen,
das ist der tiefere Grund für diese Verweigerungshaltung
‚Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluss’,
‚Are you experienced?’
Ich meine, ich hätte das wahrscheinlich auch so gemacht,
aber was bringt das – on the long run?
Und die hier haben’s immer noch nicht begriffen – alla …
Ey, sieh dir mal die schwarze Wand da draußen an! Gibt’s das?
Gib mir bitte noch mal’n Glas.
Wer weiß, ob wir hier überhaupt noch rauskommen heute.
Dank dir – und dreimal skål.

5 Cartons à 12 Flaschen Wodka
der Marke Żubrówka – höre ich ein Gebot?

Sieht aus, als ob wir leer ausgingen heute, was?
Der Weinkeller scheint jedenfalls gar nicht dabei zu sein.
Ja, bei der Räumung wohl übersehen – wer’s glaubt, ey!
Scheiß drauf! Irgendwann krieg ich sie, seine Chateauneufs –
früher oder später – es sei denn, er säuft die gerade alle aus.
Zuzutrauen wär’s ihm – zack –
so plötzlich ausgeschlossen vom Rennen.
Natürlich ist er nicht der einzige, aber so fühlt sich das an:
Verarmter Fürst im 250-Quadratmeter-Eigenheim.
Das wird sich niemals ändern, glaub mir.
Solange die Loser sich alle schön separieren ‛wieso nicht.
Nein, ich mein jetzt die richtigen Verlierer,
die Gefisteten, die Prolls und Leiharbeiter,
selbst die Unbefristeten sind doch längst am Arsch,
die Jugendlichen, die im Leben kein‘ Job kriegen werden
und der ganze große Vorstadt-Trash-Haufen,
jaja, Kesselflicker und Galeerensklaven, mach dich nur lustig,
aber ist doch so: alle pricken schön für sich,
Empörung mal hier, brennende Autos und Plünderung da,
und um sie rum zerschellt der Überbau – herrlich!
Alles ändert sich und alles bleibt, wie‘s ist – mal wieder.
Die müssten sich bloß mal erinnern, ey.
Wenn die oben nicht können und die unten nicht wollen.
Na was denn? Ist doch so!
Die Spielregeln, genau!
Wann mussten die denn zum letzten Mal Angst haben?
Ich meine richtig, ums Leben – siehst du?!
Ja, weiß ich auch – ich bin schon leise.
Sieh mal nach draußen jetzt, Alter, was ist das denn?
Der Strom aus Schlamm und Plunder! Also wenn das nicht bald …
Ja, nach oben, lass uns die Treppe nehmen, bloß nicht den Aufzug.
Denk an die Kühltasche –  Vamos!
Meine Damen – auf Wiedersehen und einen schönen Feierabend!
Mein Begleiter und ich ziehen in den zweiten Stock.
Die Abholung der ersteigerten Gegenstände hat spätestens
bis morgen Mittag 12:00 Uhr zu erfolgen.

Der war nicht schlecht, oder: ‚Schönen Feierabend‘?
Mal sehen, ob die noch raufkommen? Da bin ich gespannt!

Sollen den Wodka mitbringen.